Corona beschleunigt den digitalen Wandel im Gesundheitssektor, aber der Staat bleibt am Ruder
ESG nach Corona - Thesen zu den mittelfristigen Auswirkungen

These 6: Hauptsache gesund

Corona beschleunigt den digitalen Wandel im Gesundheitssektor, aber der Staat bleibt am Ruder.

Das Thema Gesundheit erfährt ein Allzeithoch

„Corona“ und „Viruskrankheiten“ dominieren die Nachrichten: Laut Bloomberg erschienen zu beiden Begriffen ca. 6,5 Millionen Schlagzeilen allein im Mai 2020. Die Aufmerksamkeit sorgt dafür, dass in Zukunft sowohl Unternehmen als auch Staaten die Gesundheitssysteme in ihren Entscheidungen stärker berücksichtigen werden. Traditionelle Indikatoren wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP) und die Arbeitslosigkeit werden um gesundheitsbezogene Kennzahlen erweitert.

So lösten die Warnungen von Ärzten und Experten eine Debatte um den „Healthcare Supercycle“ aus: Das Royal College of Radiologists mahnte an, dass der Radiologiebereich „kläglich unterfinanziert“ sei. Daraufhin hat England bereits angefangen, etwa 200 Millionen Pfund in bildgebende Geräte zu investieren. Das könnte ein erster kleiner Schritt eines umfassenden Investitionsprogramms der britischen Regierung in den Gesundheitssektor sein. Angesichts der bereits hohen Ausgaben für Corona-Rettungspakete scheint ein echter Supercycle jedoch unwahrscheinlich. Zu erwarten sind vielmehr kleinere gezielte Investitionen in die Digitalisierung im Gesundheitswesen, ein besseres Informationsmanagement und in die Krankenhausausstattung.

Corona-Pandemie verdeutlicht Ineffizienz im Zusammenspiel von Politik und Gesundheitssystemen

Mehr ist nicht immer besser: Vor allem in den USA ist der Anteil der Gesundheitsausgaben gemessen am BIP extrem hoch. Dennoch ist die Lebenserwartung nicht höher als in Ländern mit einem geringeren Anteil. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt, dass 20 bis 40 Prozent aller Gesundheitsausgaben durch Ineffizienz verschwendet werden. Es wird vermutet, dass zum Beispiel das US-Gesundheitssystem jährlich bis zu 213 Milliarden US-Dollar einsparen könnte, wenn Behandlungen effizienter und angemessener eingesetzt würden.

Darüber hinaus müssen Staaten ihre Gesundheitssysteme besser auf zukünftige Krisen vorbereiten: Laut WHO halten sich die Investitionen für ein resilienteres Gesundheitssystem in Grenzen, obwohl sie auch zur Armutsbekämpfung beitragen, da arme Menschen häufig stärker betroffen sind.

Ein resilientes Gesundheitssystem lohnt sich: Der wirtschaftliche Nutzen beträgt laut WHO mindestens 6,7 Milliarden US-Dollar pro Jahr und liegt damit deutlich über den geschätzten Investitionen von ca. 3,4 Milliarden US-Dollar.

Investitionen in Gesundheitwesen imd Vergleich zu Gesamtausgaben der Corona-Konjunkturpakete

Durch Corona werden digitale Trends im Gesundheitssektor beschleunigt

Die Toleranz für medizinische Überwachung und digitale Services ist gestiegen – es werden neue Standards gesetzt: Aufgrund des Lockdowns mussten viele Patienten auf Telemedizin zurückgreifen. Mittlerweile bieten mehr als 50 Prozent der Ärzte Telemedizin an – vor einem Jahr lag der Anteil noch im einstelligen Bereich. Viele Unternehmen haben Corona als Chance genutzt, um ihr digitales Angebot auszubauen. Mittelfristig werden ca. 25 Prozent der Patienten-Interaktionen digital erfolgen. Dadurch werden Ärzte und Kliniken entlastet: Langfristig wirken sich digitale Services positiv auf die Kosten und den Zugang zu Medizin aus und können den CO₂-Abdruck reduzieren.

Anstieg der Telemedizin-Inanspruchnahme während COVID

Darüber hinaus ermöglichen Digitalisierung, Big Data und künstliche Intelligenz die schnellere und genauere Diagnose für eine steigende Zahl an Patienten: Ein Drittel der weltweit verfügbaren Daten hat einen Gesundheitsbezug – bisher werden diese aber noch nicht in vollem Ausmaß genutzt. Der Einsatz von Big Data verspricht eine präzisere Behandlung und bessere Prävention, wodurch die Effizienz im Gesundheitssystem steigt: Die hohe Nachfrage wird an der Quelle bekämpft. Besonders stark profitieren bildgebende Diagnostik, Dialyse und Strahlentherapie durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz, da die jeweiligen Therapien bisher kaum personalisiert sind.

Der Nationalstaat wird im Gesundheitsbereich eine stärkere Rolle spielen

Abhängigkeiten in Wertschöpfungsketten werden reduziert: Die durch Corona entstandene Knappheit an Komponenten für technische Geräte, persönliche Schutzausrüstung und Testequipment hat die starke Abhängigkeit von anderen Ländern offengelegt. In der Europäischen Union werden zwischen 60 und 70 Prozent der medizinischen Schutzausrüstung aus China bezogen. Um in Zukunft besser vorbereitet zu sein, werden Teile der Wertschöpfungskette stärker regional verankert.

Anteil der jeweiligen Importe für Schutzausrüstung aus China am Gesamtimport

Der Staat wird in systemkritischen Bereichen wie dem Gesundheitssektor Investoren kritischer betrachten und gegebenenfalls eingreifen: Zum Schutz der nationalen Gesundheit werden Beteiligungen internationaler Investoren eingehender analysiert und zuweilen unterbunden.

  1. Autorin:
    Verena Volgmann, ESG Analystin im Portfoliomanagement bei Union Investment
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